An einem stillen Sommerabend saß Lina in ihrem Zimmer, vertieft in ein Buch voller Abenteuer. Eigentlich liebte sie die Wärme und das Summen der Insekten draußen, doch an diesem Tag wollte sie ganz in Ruhe lesen. Plötzlich erschütterte ein lautes Klopfen die Stille. Lina horchte auf. Es klang, als ob sich jemand mühsam gegen die Tür lehnte. Neugierig und etwas beunruhigt legte sie ihr Buch beiseite und schlich zum Flur.
Ihre Eltern waren ebenfalls aufgestanden und blickten zum Eingang. „Hast du etwas gehört, Papa?“, fragte sie leise. Linas Vater nickte. „Jemand scheint Hilfe zu brauchen“, sagte er ernst. Gemeinsam gingen sie zur Haustür und öffneten sie vorsichtig. Draußen, im fahlen Licht des Abendhimmels, stand ein älterer Mann, seine Schultern zitterten sachte. Er trug eine leichte Jacke und sah erschöpft aus, als wäre er schon lange unterwegs.
Vorsichtig fragte Linas Mutter: „Kann ich Ihnen helfen?“ Der fremde Mann hob den Blick und lächelte zaghaft. „Bitte entschuldigt die Störung. Ich bin schon den ganzen Tag zu Fuß unterwegs und habe mich im Dorf verirrt. Könnte ich mich vielleicht kurz ausruhen und einen Schluck Wasser bekommen?“ Linas Eltern sahen einander an und zögerten nur einen Atemzug lang. Dann trat Linas Vater beiseite: „Natürlich, kommen Sie doch herein.“
Der Mann wirkte erleichtert. Er trat vorsichtig ins Haus, als müsse er sich erst vergewissern, dass das Angebot ernst gemeint war. Lina betrachtete ihn neugierig. Er hatte wache Augen, wenn auch sein Blick von Müdigkeit gezeichnet war. Seine Haare waren von der Sonne ausgeblichen, und in seinem Bart glitzerten einzelne graue Strähnen.
„Setzen Sie sich gern“, bot Linas Mutter ihm einen Stuhl in der Küche an. Sie reichte ihm ein Glas Wasser und begann, etwas Brot und Käse herzurichten. Linas Vater fragte nach, was genau passiert sei. Mit leiser Stimme berichtete der Mann von einer langen Wanderung, von zerschlissenen Karten und fehlenden Straßenschildern. Er hatte geglaubt, den Weg in die nächste Stadt zu kennen, doch eine Baustelle zwang ihn zu einem Umweg, den er nicht vorgesehen hatte.
Lina hörte aufmerksam zu, während ihr Herz vor Mitgefühl warm wurde. Der Mann war ihr fremd und dennoch erschien er ihr in diesem Moment wie ein verzweifelter Reisender aus einer alten Geschichte, wie sie sie so oft in Büchern gelesen hatte. Sie stand auf und holte ein Kissen für seinen Stuhl, damit er bequemer sitzen konnte.
Als der Gast sich gestärkt hatte, wollte er sich sogleich bedanken und aufbrechen. „Bleiben Sie doch über Nacht“, sagte Linas Vater. „Es ist schon spät, und der Weg ist weit. Sie könnten sich im Gästezimmer ausruhen.“ Der Mann schien völlig überrascht von diesem Angebot. „Ich möchte euch doch nicht zur Last fallen.“ Linas Mutter legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Sie sind uns keine Last. Es gibt immer Platz für einen Gast, besonders für einen, der eine helfende Hand braucht.“
Lina zeigte dem Mann das kleine Gästezimmer am Ende des Flurs. Es war einfach eingerichtet, mit einem Bett, einem Nachttisch und einem alten, dicken Teppich, den die Familie von den Großeltern geerbt hatte. „Ich hoffe, Sie können gut schlafen“, sagte Lina schüchtern. Der Mann lächelte. „Ich bin sicher, ich werde schlafen wie ein Stein. Danke, Lina.“ Sie wunderte sich, dass er ihren Namen kannte, doch dann erkannte sie, dass er vermutlich zugehört hatte, wie die Eltern sie immer wieder ansprachen.
Bevor Lina selbst ins Bett ging, lauschte sie noch eine Weile. Sie hörte, wie ihre Eltern die Fenster verschlossen und die Lichter löschten. Ein stilles Gefühl der Zufriedenheit breitete sich in ihr aus. Zu wissen, dass sie jemandem helfen konnten, erfüllte das Haus mit einer wohligen Wärme.
In dieser Nacht hatte Lina einen schönen Traum: Sie befand sich in einem alten Märchenwald, in dem die Bäume flüsterten und ihr freundliche Wesen begegneten. Gemeinsam bauten sie ein kleines Haus aus Zweigen, um Reisenden Schutz vor Regen und Kälte zu bieten. Als die ersten Sterne in ihrem Traum zu funkeln begannen, wusste sie: Jeder, der Hilfe braucht, verdient einen Ort zum Ausruhen.
Am nächsten Morgen kitzelte die Sonne Linas Nase wach. Sie rieb sich verschlafen die Augen, zog sich hastig an und huschte in die Küche. Ihr Vater und ihre Mutter saßen bereits am Tisch, zusammen mit dem Gast, der nun deutlich erholter wirkte und sogar ein warmes Lächeln im Gesicht hatte. „Guten Morgen, Lina“, sagte er freundlich. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen.“
Linas Mutter hatte Pancakes gebacken und gab dem Mann ein kleines Päckchen mit, in dem Brot, Käse und ein paar Kekse für den Weg verstaut waren. „Ein wenig Proviant kann nicht schaden“, meinte sie. Linas Vater zeichnete ihm auf einem Blatt Papier eine genaue Wegbeschreibung zur Stadt. „Jetzt sollten Sie sich nicht mehr verlaufen“, sagte er verschmitzt und klopfte dem Mann dankend auf die Schulter.
Schließlich nahm der Mann Abschied. „Ich weiß nicht, wie ich euch jemals danken soll. Ihr habt mir mehr gegeben als Wasser und ein Dach über dem Kopf. Ihr habt mir das Gefühl vermittelt, willkommen zu sein, obwohl ihr mich kaum kanntet.“ Linas Vater hob die Hände. „Was würden wir uns wünschen, wenn wir in derselben Lage wären? Dann sollten wir auch das Gleiche geben – Gastfreundschaft und ein offenes Herz.“
Lina trat vor und drückte ihm zum Abschied die Hand. „Gute Reise und kommen Sie gut an. Und falls Sie wieder in der Nähe sind …“, fügte sie leise hinzu, „… schauen Sie einfach vorbei.“ Der Mann nickte, sichtlich gerührt. „Ich werde mich bestimmt daran erinnern.“
Als er schließlich verschwand, blieb eine angenehme Stille im Haus zurück, gespickt mit Dankbarkeit und Stolz. „Das war schön“, sagte Lina leise. „Es fühlt sich gut an, jemandem zu helfen.“ Ihre Eltern lächelten – und Lina spürte, wie tief dieses Erlebnis ihr Herz berührt hatte.
In den kommenden Tagen erzählte sie in der Schule von dem unerwarteten Gast. Einige Mitschüler sahen sie erstaunt an, andere lächelten. Am Abend, wenn sie sich ins Bett kuschelte, dachte Lina oft zurück an den warmen Ausdruck in den Augen ihres Gastes. Sie wurde sich bewusst, wie wertvoll ein offenes Haus und ein offenes Herz sein können, wenn jemand müde von der Reise an deine Tür klopft.
Gute Nacht!